Montag, 20. Oktober 2014

Postsynodale Reflektionen über Gesetz und Gnade

Im gegenwärtigen Pontifikat scheinen „Gesetze“ als Zäune verstanden zu werden, die verlorene Schafe davon abhalten, zu Jesus zu finden, und deshalb niedergerissen werden wüssen. Oder wie sich der gegenwärtige Papst diese Woche geäußert hat: Ein Gesetz, das nicht zu Jesus führe, sei „tot“.

Traditionell scheinen sie mir eher als Leitplanken zu fungieren, die die Herde davon abhält, vollends von der Bahn abzukommen, die bei Paulus deshalb obsolet werden, weil die im Kreuz offenbarte Liebe Gottes die Menschen befähigt, sich an der Mittellinie zu orientieren, so dass die Leitplanken überflüssig werden. Er warnt jedoch: „Nehmt die Freiheit nicht zum Vorwand für das Fleisch“.

Natürlich hat der gegenwärtige Papst Recht, wenn er feststellt, dass es eine Überkonzentration auf das Geschlechtliche gibt. Nicht nur im Medieninteresse bezüglich katholischer Revolutionen, sondern auch in den katholischen Reaktionen auf gesellschaftliche Entwicklungen. Natürlich zeitigen ungeordnete Neigungen Folgen, auf die hinzuweisen leicht fällt, wie Scheidungsverwaisung, Abtreibung, Verwirrung über das eigene Geschlecht und die sexuelle Orientierung, Kindesmissbrauch usw.
Die Symptome sind aber nur Zeichen, nicht Ursachen der Krankheit.

Auch scheint mir, dass die (synodenrelationale, befreiungstheologische?) Rückführung auf „ökonomische Faktoren“ zu kurz greift, etwa (wie manche sagen) dass die Minderjährigen in den Favelas Kinder bekommen, weil sie kein Geld für Kinokarten haben (und man sich ja irgendwie die Zeit vertreiben muss).
[Vielleicht wäre es trotzdem gut, diese These einem Test zu unterziehen, indem man kostenloses katholisches Freiluftkino in den Vorstädten anbietet – wenn dadurch einige Seelen gerettet würden, umso besser.]
Hierzulande sieht es aber wohl eher so aus, dass die Kinder aus dem Kino lernen, dass Beziehungen beginnen, indem man übereinander herfällt und – wenn es gut gelaufen ist – eventuell nachher nach dem Namen fragt.

Die Lösung steckt kaum darin, die Leitplanken zu diskreditieren. Wenn es wirklich die Gebote wären, die potentielle Gläubige davor abschreckten, ihren Weg mit Jesus zu gehen, wäre das erste, das abgeschafft werden müsste, doch wohl das der Feindesliebe, wovon – wenn man eine entsprechende Umfrage durchführen wollte – das wirkliche Leben von noch viel mehr Menschen abweichen wird als von Humanae vitae oder dem Verdikt gleichgeschlechtlichen Verkehrs.

Auch scheint der Autor von Evangelii gaudium die Abschaffung nicht zu propagieren, denn da heißt es:

Nr. 171: „Es kann jemand die Gnade und die Liebe haben, trotzdem aber die eine oder andere Tugend »aufgrund einiger entgegengesetzter Neigungen«, die weiter bestehen, nicht gut leben. Deshalb bedarf es einer »Pädagogik, welche die Personen schrittweise zur vollen Aneignung des Mysteriums hinführt«.“
Nr. 172: „Das Evangelium schlägt uns vor, einen Menschen zurechtzuweisen und ihm aufgrund der Kenntnis der objektiven Bosheit seiner Handlungen wachsen zu helfen, ohne jedoch über seine Verantwortung und seine Schuld zu urteilen.“

Das ist die „Gradualität“, wie sie der Lehre entspricht – haben die radikalistischen Synodenväter (und der gegenwärtige Papst??) die Enzyklika nicht soweit gelesen?

Dass übrigens Paulus nicht der Ansicht ist, die Gebote würden den Sünder von der Liebe Gottes abtrennen, schreibt er im Epheserbrief (Eph 2,1-3 paraphrasiert):
Wir alle waren in unseren Sünden gefangen, unter der Herrschaft des Geistes dieser Welt, als wir noch von den Begierden unseres Fleisches beherrscht wurden. Wir waren von Natur aus Kinder des Zorns wie die anderen.
Dann kommt aber eben kein „realistischere Erwartungen aneinander stellen“ und keine „Gradualität“, so dass man auch mit kleinerem Einsatz noch über die flache Hürde springen kann, sondern (Eph 2,8-9):
Nicht aus eigener Kraft seid ihr gerettet, nicht aufgrund eurer Werke, damit keiner sich rühmen kann.
Der Kern, die Mitte, Anfang und Ende der Fähigkeit, „die guten Werke zu tun, die Gott für uns im Voraus bereitet hat“, ist Gottes Erbarmen, seine Liebe, der „überfließende Reichtum seiner Gnade“ (Eph 2,4-5):
Gott aber, der voll Erbarmen ist, hat uns, die wir infolge unserer Sünden tot waren, in seiner großen Liebe, mit der er uns geliebt hat, zusammen mit Christus wieder lebendig gemacht. Aus Gnade seid ihr gerettet.
Erstaunlicherweise* kennt auch Evanglii Gaudium diese Gnade, und den Weg, sich dieser zu öffnen:

Nr. 264: „Der erste Beweggrund, das Evangelium zu verkünden, ist die Liebe Jesu, die wir empfangen haben; die Erfahrung, dass wir von ihm gerettet sind, der uns dazu bewegt, ihn immer mehr zu lieben. … Wir müssen ihn jeden Tag anflehen, seine Gnade erbitten, dass er unser kaltes Herz aufbreche und unser laues und oberflächliches Leben aufrüttle. … Wie schön ist es, vor einem Kreuz zu stehen oder vor dem Allerheiligsten zu knien und einfach vor seinen Augen da zu sein! Wie gut tut es uns, zuzulassen, dass er unser Leben wieder anrührt und uns antreibt, sein neues Leben mitzuteilen!“

Nr. 267: „Mit Jesus vereint, suchen wir, was er sucht, lieben wir, was er liebt. Letztlich suchen wir die Ehre des Vaters und leben und handeln ‚zum Lob seiner herrlichen Gnade’“.


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* Ich schrieb „erstaunlicherweise“, weil normalerweise, wenn in Evangelii Gaudium von Gnade die Rede ist, dann (so der Eindruck beim schnellen Durchblättern) im Zusammenhang der Hindernisse (Gebote, Priester, Glaubensbekenntnis), die den Gläubigen den Weg zur Gnade verbauen, nämlich:

Nr. 38: in der Verkündigung des Evangeliums muss ein rechtes Maß herrschen: Missverhältnis, wenn mehr vom Gesetz als von der Gnade gesprochen wird.

Nr. 47: „Häufig verhalten wir uns wie Kontrolleure der Gnade und nicht wie ihre Förderer.“

Nr. 84f.: (Unter der Überschrift) „Nein zum sterilen Pessimismus“

Nr. 94: „Es ist eine vermeintliche doktrinelle oder disziplinarische Sicherheit, die Anlass gibt zu einem narzisstischen und autoritären Elitebewusstsein, wo man, anstatt die anderen zu evangelisieren, sie analysiert und bewertet und, anstatt den Zugang zur Gnade zu erleichtern, die Energien im Kontrollieren verbraucht.“

Nr. 104: „Die Gleichgestaltung des Priesters mit Christus, dem Haupt – das heißt als Hauptquelle der Gnade – schließt nicht eine Erhebung ein, die ihn an die Spitze alles Übrigen setzt.“

Nr. 112: „Durch ihr evangelisierendes Tun arbeitet sie [die Kirche] mit als Werkzeug der göttlichen Gnade, die unaufhörlich und jenseits jeder möglichen Kontrolle wirkt.“

Nr. 117 (nachdem in Nr. 115 („Die Gnade setzt die Kultur voraus“) und 116 („unzählige Völker haben die Gnade des Glaubens empfangen“) die Gnade angesprochen wird): „Die Botschaft, die wir verkünden, weist immer irgendeine kulturelle Einkleidung vor, doch manchmal verfallen wir in der Kirche der selbstgefälligen Sakralisierung der eigenen Kultur, und damit können wir mehr Fanatismus als echten Missionseifer erkennen lassen.“

Nr. 124 (über die Volksfrömmigkeit) „Tun wir dieser missionarischen Kraft keinen Zwang an und maßen wir uns nicht an, sie zu kontrollieren!“

Nr. 138 (über die Homilie) „Das erfordert, dass das Wort des Predigers nicht einen übertriebenen Raum einnimmt, damit der Herr mehr erstrahlt als der Diener.“

Ausnahme:

Nr. 188: „Die Kirche hat erkannt, dass die Forderung, auf diesen Ruf zu hören, aus der Befreiung selbst folgt, die die Gnade in jedem von uns wirkt“, woraus als Aufgabe der Kirche „Mitarbeit, um die strukturellen Ursachen der Armut zu beheben und die ganzheitliche Entwicklung der Armen zu fördern“, also wohl politische Tätigkeit(?) gefolgert wird




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